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Wenn die Krise gerechter wird – aber das System bleibt, wie es ist

  • eberhardkuom
  • vor 11 Minuten
  • 3 Min. Lesezeit

Es gibt Momente im Führungsalltag, in denen eine Organisation wie ein kluges, aber erschöpftes Tier wirkt: Sie sendet Signale, die niemand hören will, und zeigt Symptome, die man lieber auf jemand anderen verteilt. Besonders dann, wenn die Krise nicht mehr nur an einer Stelle knarzt, sondern leise durch alle Strukturen rieselt.


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Und genau hier beginnt das Paradoxon, das Führungskräfte so treffsicher beherrschen wie kaum eine andere Profession: Die Fähigkeit, eine strukturelle Krise in ein moralisches Verteilungsproblem umzudeuten – und sich damit genau jene Handlungsspielräume zu nehmen, die man eigentlich bräuchte.


Wenn das System schreit, aber das Team Schuld bekommt

Man kennt die Szene: Der Umsatz schwächelt, die internen Prozesse kollabieren ein wenig vor sich hin, die strategische Klarheit ist eher so metaphorisch als real – und doch kreist die Diskussion im Führungskreis erstaunlich zuverlässig um Fragen wie:


  • „Wer hält sich nicht an die Absprachen?“

  • „Welche Abteilung trägt zu wenig bei?“

  • „Wen müssen wir stärker in die Pflicht nehmen?“


Das klingt nach Verantwortungsbewusstsein. Es klingt nach Führungsstärke. Es klingt nach Kontrolle. Und ist doch oft das Gegenteil: eine rationale Verschiebung, die auch als „Lösung zweiter Ordnung im Gewande tugendhafter Fairness“ beschrieben werden könnte.

Denn während man energisch darüber streitet, wer zu wenig schultert, versäumt man gleichzeitig die einzig relevante Frage: Warum müssen wir überhaupt so viel schultern? Was erzeugt die Last?


Strukturelle Krisen: der ungebetene Gast im Führungsalltag

Strukturelle Krisen sind die unhöflichsten Krisen. Sie betreten den Raum, ohne sich anzukündigen, sie tragen keine Namensschilder, und sie antworten nicht, wenn man sie direkt anspricht. Dafür antworten sie zuverlässig, wenn man sie ignoriert.


Sie äußern sich in Phänomenen wie:

  • Entscheidungen, die erstaunlich schwerfällig werden

  • Teams, die permanent überlastet sind, aber nichts Greifbares „falsch“ machen

  • Zielkonflikte, die sich nicht durch mehr Kommunikation lösen lassen

  • Verantwortlichkeiten, die trotz klarer Organigramme diffus bleiben

  • Prozesse, die funktionieren sollten – laut Handbuch –, aber in Echtzeit kollabieren


Das irritiert. Denn es widerspricht dem inneren Glauben vieler Führungskräfte, dass „Ordnung“ primär eine Frage von Disziplin und Rollenklärung sei. Aber eine strukturelle Krise lässt sich nicht durch verteilte Energie lösen. Eher durch eine veränderte Landkarte.


Je gerechter die Krise verteilt wird, desto stabiler bleibt sie

Kennen Sie diese schmerzhaft praxisnahen Momente?

Eine Führungskraft sagt: „Ich übernehme mehr Verantwortung.“

Eine andere sagt: „Ich entlaste mein Team.“

Ein Dritter sagt: „Ich verteile die Aufgaben klarer.“


Doch statt einer Lösung entsteht ein merkwürdiger Stillstand. Warum?

Weil die individuelle Verantwortung wächst, während die strukturelle Irritation unangetastet bleibt. Die Krise wird mathematisch gerechter, psychologisch angenehmer – und funktional unverändert. Es ist, als ob man in einem defekten Aufzug beschließt, abwechselnd die Tür festzuhalten: Fair ist es. Hilfreich nicht.


Praxisfall: Ein Unternehmen, das seine Symptome perfektionierte

Ein mittelständisches Technologieunternehmen entschied sich, seine Dauerüberlastung dadurch zu beheben, dass die Arbeitslast „transparenter und fairer“ zwischen den Teams verteilt wurde.


Ergebnis nach drei Monaten:

  • Die Mitarbeitenden fühlten sich gerechter behandelt.

  • Die Meetings waren harmonischer.

  • Die strukturellen Engpässe bestanden unverändert.

  • Und die Führungskräfte wunderten sich, warum die Prozessqualität sich trotz gewonnener Fairness nicht verbesserte.


Die Harmonie stieg – die Funktionalität blieb stehen. Die Krise hatte ein neues Kleid, aber keinen neuen Zustand. Auch das ist eine Form des Fortschritts – allerdings des zirkulären.


Die eigentliche Kompetenz moderner Führung: nicht verteilen, sondern durchschauen

Paradoxerweise zeigt sich reifes Führungsverhalten nicht darin, eine Last gerecht zu verteilen, sondern darin, zu erkennen, wann die Last gar nicht verteilt werden kann, weil sie strukturell erzeugt wird.


Dazu braucht es:

  1. Diagnostische Besonnenheit

    Die Fähigkeit, Symptome nicht sofort zu operationalisieren.

  2. Den Mut zur Unbequemlichkeit

    Die Einsicht, dass man Teil des Systems ist, das analysiert wird.

  3. Die Kunst der Mustererkennung

    Das Erkennen von wiederkehrenden Spannungen, die weder personell noch organisatorisch „durch Fleiß“ lösbar sind.

  4. Die Bereitschaft, das Problem nicht gerechter, sondern kleiner zu machen

    Und das bedeutet: die Struktur, nicht die Menschen, zu verändern.


Gesellschaftliche Parallele: Ein System sieht sich selbst nicht

Die Fehlwahrnehmung von Krisen als Verteilungsproblem statt als Strukturproblem ist derzeit nicht nur in vielen Unternehmen zu sehen, sondern gesellschaftlich omnipräsent.


Wir erleben in Echtzeit, wie enorme strukturelle Transformationsprozesse (Digitalisierung, ökologische Kipppunkte, geopolitische Verschiebungen) von politischen und gesellschaftlichen Akteuren bevorzugt als Frage gerechter Belastungsaufteilung diskutiert werden.


Es ist der gleiche Mechanismus – nur größer: Fairness als Ablenkung von Funktionslogik.


Schlussgedanke

Die gute Nachricht: Strukturelle Krisen sind selten bösartig. Sie sind nur ehrlich. Sie zeigen, wo das System nicht mehr zum Zweck passt, den es erfüllen soll. - Die schlechte Nachricht: Sie sind erstaunlich geschickt darin, sich als moralische oder personelle Probleme zu verkleiden.


Deshalb lautet der eigentliche Auftrag an Führungskräfte in der heutigen Zeit:

Nicht: Wer soll mehr tragen?

Sondern: Was erzeugt die Last?


Die klügste Führung erkennt die Momente, in denen Fairness nicht hilft.

 
 
 

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